Der große Lobgesang der Tiere

Fast überall in der Welt wurde das Weihnachtsfest gefeiert. Da kamen auch die Tiere zusammen, um ihren Schöpfer zu loben. Es war ein riesengroßer, vierstimmiger Chor. Der Pfau war der Dirigent. Wenn er seine prächtigen Schwanzfedern ganz weit ausstreckte, sang der Chor mit voller Kraft und mit allen schönen Gefühlen, die in Tierherzen wohnen. Doch was war das? Auf einmal ließ der Pfau sein prächtiges Federrad wieder zusammenfallen. Die Tiere verstummten. Nur einer sang weiter: “Iah – Iah“

Oh weh! Das klang ja schauerlich! Das hielt ja niemand aus. Der Elefant, der ja nun auch nicht gerade der angenehmste Sänger ist, versetzte mit seinem Rüssel dem Esel einen Schlag. „He, du singst falsch!“ – „Du machst unser Lied kaputt mit deinem Geschrei!“ riefen die anderen Tiere. Da erschrak der Esel und schaute sich ängstlich um. Es hatte ihm doch so viel Freude gemacht.

Kannst du nicht anders singen? Immer nur dieses blöde Iah – Iah!“

„Sag doch was! Lass dir doch nicht alles gefallen!“, flüsterte das Maultier dem Esel zu. „Auch bei den Menschen spielst du immer den dummen Esel und lässt dich schlagen. Und dann sagst du auch noch ‚Ja – Ja‘ dazu.“

Aber der Esel schwieg und trauerte still in sich hinein. Er hörte gerade noch, dass alle beschlossen: Der Esel darf nicht mehr mitsingen. Dann ging das Konzert der Tiere weiter, mindestens drei Stunden lang. Es klang wunderbar. Das hörte auch der Esel, der so gern mitgesungen hätte zum Lob seines Schöpfers. Er hatte so viele schöne Worte in seinem Herzen und hätte sie gerne herausgelassen, damit Gott sich daran freut. Als alle Tiere längst fortgegangen, fortgekrochen oder fortgeflogen waren, stand der Esel noch immer dort. Da spürte er plötzlich einen leichten Klaps auf seinem Rücken, und eine Menschenstimme sprach zu ihm: „Na, Alterchen, du schläfst wohl im Stehen?“ Da machte der Esel die Augen auf und sah einen alten Mann mit einem langen, weißen Bart.

„Warum bist du so traurig?“ Die Stimme des alten Mannes klang freundlich. Da erzählte ihm der Esel nun die ganze Geschichte von den Tieren, die ihm beim Lobgesang nicht mitsingen lassen wollten.

„Mach dir nichts daraus“, sagte der Alte, „die anderen Tiere sind bloß neidisch auf dich.“ Das verstand der Esel nicht. „Wieso neidisch?“, fragte er verwundert, „die anderen können doch viel schöner singen als ich.“

„Es ist eben alles Geschmacksache“, antwortete der alte Mann. „Geschmacksache …., davon verstehe ich auch etwas“, sagte der Esel, „mir schmeckt Hafer auch besser als Disteln.“

„Die anderen lassen sich wenigstens nicht alles gefallen“, fuhr der Alte fort. „Das Pferd schlägt mit seinen Hufen aus, der Hund beißt, und das Lama spuckt sogar, wenn es geärgert wird. Du bist oft viel zu geduldig und zu gutmütig und lässt dich ausnutzen. Ich gebe ja zu, manchmal hast du auch einen Dickkopf und bewegst dich nicht von der Stelle.“

„Aber schließlich mache ich dann doch, was die Menschen von mir wollen“, antwortet der Esel. „Warum sollten die anderen Tiere dann neidisch auf mich sein?“

„Das ist eine uralte Geschichte“, sagt der alte Mann mit dem langen, weißen Bart. „Ich will sie dir erzählen, damit du verstehst, warum sie neidisch sind.“

„Da bin ich aber gespannt“, meinte der Esel und machte ein kluges Gesicht dabei. Er wusste ja, wenn man richtig zuhört, sieht man immer klug und schön aus.

„Die Geschichte, die ich erzählen werde, ist passiert, als Jesus mit seinen Freunden nach Jerusalem unterwegs war. Er rief zwei seiner Jünger zu sich und sagte: ‚Geht in das nächste Dorf. Dort werdet ihr einen Esel angebunden finden. Den bindet los und bringt ihn zu mir. Wenn euch jemand fragt, was ihr da macht, sagt einfach, dass euer Herr den Esel braucht.‘“ „Das ist ja eine tolle Geschichte!“ rief der Esel, und dabei wurde er schon ein ganz klein wenig stolz.

„Ja, du kannst wirklich stolz sein“, sagt der Mann. „Stell‘ dir einmal vor, ein paar Stunden später ritt Jesus wie ein König in die Stadt Jerusalem ein. Der Esel hat ihn getragen. Die Leute haben Hosianna gerufen und in die Hände geklatscht. Überall haben sie Blumen auf seinen Weg gestreut und ihm mit Palmenzweigen zugewunken. Aus ihren Umhängetüchern haben sie einen Teppich ausgebreitet, über den der Esel mit Jesus auf dem Rücken gegangen ist.“

„Das ist ja toll!“ sagte der Esel noch einmal. Diese Worte kamen ganz tief aus seinem Herzen wie ein Seufzer der Erleichterung.

„Ich will dir noch eine andere Geschichte erzählen“, sagte der alte Mann, der so viel wusste und eine so freundliche Stimme hatte. „Viele Jahre davor hatte es noch einen anderen Esel gegeben. Auf ihm hat Maria, die Mutter Jesu, gesessen und den kleinen Jesus im Arm gehalten. Alles geschah heimlich und mitten in der Nacht. Der Esel wusste genau, dass es sein musste und dass er nicht ausruhen durfte, obwohl er den ganzen Tag schwer gearbeitet hatte. Er ist auch kein einziges Mal stehengeblieben, sondern immer weitergetrabt, weil er wusste, dass die Soldaten des Königs Herodes das Kind umbringen wollten. Darum hat er seine Füße auch ganz leise auf den Boden gesetzt. Niemand sollte ihn hören, und außerdem sollte die Mutter mit dem Kind nicht so durchgerüttelt werden oder gar herunterfallen. Nur wenn sie an einen Brunnen kamen, hat er angehalten … Am Ende war der Esel sehr glücklich und hat laut Iah – Iah gemacht, minutenlang, ganz laut, denn er musste seinem Herzen Luft machen. Das war das Größte in seinem Leben. Vielleicht wäre ohne ihn die Flucht nach Ägypten nicht geglückt. Gott im Himmel und alle Engel haben sich damals über den Lobgesang des Esels gefreut.“ (Johannes Jordan)